[B]Ständige Kosten-Nutzen-Berechnungen untergraben das ärztliche Ethos[/B]

Opfer sind meist die Patienten. Es geht schließlich auf ihre Kosten, wenn in Krankenhäusern und Praxen gespart wird. Einige Konsequenzen für die Kranken sind naheliegend: Wird eine Station nur von zwei statt drei Ärzten und von vier statt sechs Pflegekräften versorgt, kann die medizinisch-technische Betreuung leiden – Verwechselungen und Fehler kommen häufiger vor, wenn Personal fehlt. Zudem wird es unter Zeitdruck schwieriger, Kranke engmaschig zu überwachen. Wird die Arbeit zu viel, bleibt am ehesten auf der Strecke, was wesentlich für eine gute Medizin ist: Zeit für Zuwendung, Zuhören und Trost; altmodisch könnte man auch von Barmherzigkeit reden.

Ein anderer Aspekt der zunehmenden Ökonomisierung im Gesundheitswesen ist bisher hingegen wenig beachtet worden. Immer häufiger stehen Kosten-Nutzen-Abwägungen des ärztlichen Tuns im Vordergrund. Damit sind nicht allein die gesundheitlichen Vor- und Nachteile gemeint, die eine medizinische Intervention für den Patienten hat. Vielmehr versäumt es kaum ein Fachartikel, auf die Kosten eines Eingriffs hinzuweisen oder auszurechnen, wie sehr ein gewonnenes Patientenjahr die Gemeinschaft belastet. Krankenhausärzte erfahren von den Kaufmännischen Direktoren und Geschäftsführern ihrer Kliniken zudem regelmäßig, welche Operationen und Therapien lukrativ sind und bei welchen das Krankenhaus draufzahlt. Längst ist es üblich, dass Chefärzten von den Sparkommissaren ihrer Kliniken nahegelegt wird, in ihren Abteilungen bevorzugt zu behandeln, was Geld bringt.

“Machen Sie halt mehr Schlaganfälle und weniger MS”, bekam ein Neurologe von seinem klinikinternen Controller zu hören. Patienten mit Schlaganfall in einer spezialisierten Abteilung zu behandeln, ist noch immer lukrativ – ebenso wie die Entfernung von Krampfadern. Die Betreuung von Patienten mit Multipler Sklerose hingegen bringt Kliniken nicht so viel ein. Auch eine gut ausgestattete Intensivstation zu betreiben, ist teuer. Suchen sich Kliniken nach solchen pekuniären Erwägungen ihre Patienten aus, drohen ähnliche Szenarien wie bei einer privatisierten Bahn. So wie manche unrentablen Bahnstrecken nicht mehr befahren und Bahnhöfe stillgelegt werden, gibt es eben auch manche Krankheiten, die aus Sicht der Klinikbetreiber unrentabel sind. In Privatkliniken ist dieser Trend bereits zu beobachten – sie bieten die Versorgung von Patienten mit manchen Leiden nicht mehr an. 2008 lag der Anteil der Krankenhausbetten in Privatkliniken in Deutschland mit 14,1 Prozent erstmals höher als in den USA. Aber auch kommunale und konfessionelle Häuser reagieren auf den Kostendruck im Gesundheitswesen manchmal mit einer verdeckten Auswahl der Patienten. Mit medizinischen Tugenden und ärztlichem Ethos hat das nichts zu tun. Die hingebungsvolle Betreuung von Kranken hat in Business-Plänen keinen Platz.

Ärzte, die ihr Tun permanent bilanzieren, neigen offenbar dazu, sich auf ein Minimum des medizinisch Notwendigen zu beschränken. Auf diese Gefahr haben die Harvard-Ärzte Pamela Hartzband und Jerome Groopman jüngst im New England Journal of Medicine hingewiesen. Die Arzt-Patienten-Beziehung ändert sich demnach, wenn Denkmuster aus der Geschäftswelt auf die Medizin übertragen werden. Empathie, Kooperation und Kollegialität blieben auf der Strecke, wenn Medizin mit dem Preisschild betrieben wird, befürchten Hartzband und Groopman. “Die Qualität der Versorgung bemisst sich nicht allein daran, ob Kranke ihre Tabletten bekommen”, so die Autoren.

Die beiden führen etliche Beispiele aus der Verhaltensforschung an, die zeigen, wie sehr sich die Einstellung ändert, wenn ständig der finanzielle Wert einer Tätigkeit mit im Spiel ist. So halfen Passanten bereitwillig, ein Möbelstück zu tragen, wenn sie um diesen Gefallen gebeten wurden. Bekamen sie 50 Cent dafür angeboten, waren weitaus weniger Spaziergänger bereit, anzupacken. “In einer geschäftlichen Beziehung erwartet man Gegenwert für eine Leistung, während eine gemeinschaftliche Beziehung dadurch geprägt ist, dass man hilft, wenn man gebraucht wird – unabhängig von einer Bezahlung”, sagen Hartzband und Groopman. Natürlich sollten Ärzte anständig honoriert werden, “aber derzeit schlägt die Waage eindeutig zur ökonomischen Seite aus – auf Kosten der gemeinschaftlichen und sozialen Dimensionen der Medizin”.

Dass Marktnormen wichtiger werden als das ärztliche Ethos, zeige sich auch in der Karriereplanung vieler Medizinstudenten. In den USA entscheiden sich immer mehr junge Ärzte für Radiologie, Anästhesie und Augenheilkunde. Das sind wichtige Disziplinen, die aber auch traditionell gut bezahlt werden und in denen sich der Zeitaufwand besser kalkulieren lässt als in anderen medizinischen Fächern. Es gibt zwar Ärzte, die dem Kostendruck in Krankenhäusern entfliehen und nach rein medizinischen Kriterien ihren Beruf ausüben wollen. Doch in der eigenen Praxis machen diese Ärzte absurderweise die Erfahrung, dass ihre Bezahlung umso geringer ausfällt, je intensiver und zeitaufwändiger sie sich einem Patienten widmen. Kommen Patienten mehrmals im Quartal, wird der Arzt irgendwann gar nicht mehr für seine Arbeit honoriert.

Im Gesundheitswesen muss sich noch viel ändern, damit der Patient stärker in den Mittelpunkt rückt. Erste Anregungen haben die Harvard-Mediziner: “Man sollte Ärzten nicht ständig den Geldwert ihrer Arbeit vorhalten”, so Hartzband und Groopman. “Erfolgreiche und gute Medizin entsteht durch Kooperation, Kollegialität, Teamwork – genau diese Eigenschaften werden aber untergraben, wenn das Gesundheitswesen zum Marktplatz wird.” WERNER BARTENS

Quelle: [URL=”http://www.sueddeutsche.de/”]süddeutsche.de[/URL]

Belsky Asked question 19. Januar 2009