Eine Querschnittslähmung tritt meist als plötzlicher Schicksalsschlag ins Leben. Viele Dinge gibt es zu bedenken und umzuorganisieren. Das Sexualleben gehört oft erst mal nicht dazu. Doch irgendwann kommt die Sehnsucht zurück. Weder Körper noch Kopf sollten diesem Verlangen dann im Weg stehen können.

Peter Mand, 49, Journalist und Redaktionsleiter im Humanis Verlag, ist seit dem 12. Lebensjahr ab dem dritten Brustwirbel querschnittgelähmt. Er lebt seit vielen Jahren glücklich und zufrieden mit einer “gesunden” Lebenspartnerin zusammen. DocCheck fragte ihn, was die Medizin dazu beitragen kann, um Sexualität mit Freude, Spaß und Lustgewinn zu erleben. Seine Antwort: “Der Mediziner beschäftigt sich mit den nachteiligen Folgen: Inkontinenz, Sensibilitätsverlust, Wegfall der psychogenen Erektion. Wichtiger wären Hinweise für eine lustvolle Sexualität: In der verbliebenen sensiblen Hautoberfläche bilden sich neue hochempfindliche Regionen, die unerwartetes erotisches Potential haben. Etwa Sensibilitätsinseln auch unterhalb eines vermeintlichen kompletten Querschnittes, mit etwas Glück in genitalen Regionen. Reflexerektionen lassen sich durch Viagra & Co meist befriedigend potenzieren, Orgasmusschwierigkeiten kommen vor, sind aber nicht querschnittspezifisch…”. Peter Mand bezeichnet sich als gesunden Menschen, der so gut wie keinen Arzt braucht und sein Leben bestens meistert. “Dass die Behinderung als zusätzliche Belastung immer präsent ist, vor allem als soziales Stigma, ist allerdings nicht zu bestreiten.” Ist der Mediziner etwa überflüssig?

Hemmschwellen der medizinischen Therapie
Dr. Dieter Löchner-Ernst, Direktor der Urologie an der BG-Unfallklinik in Murnau und unter Insidern bekannt als Herausgeber des Videos “Nicht vorbei”, teilt diese Einstellung nur bedingt. “Viele trauen sich einfach nicht, über ihre Probleme oder sexuellen Wünsche mit einem Urologen oder Psychologen zu sprechen”. Aus seiner Erfahrung gibt es je nach Verletzung massive sexuelle Probleme bei Querschnittgelähmten, an denen letztendlich so manche Partnerschaft zerbricht. Eine Therapie der Betroffenen und möglichst auch ihrer Partner könnte Hemmungen abbauen und trotz Handicap zu einem zufrieden stellendem Sexualleben führen. Voraussetzung sei, dass sich die Therapiemaßnahmen an den Bedürfnissen der Behinderten orientieren. Ebenso wichtig sei die Berücksichtigung der psychischen und sozialen Einflüsse. So seien beispielsweise Pflege und Sexualität schon aus ästhetischen Gründen unvereinbar. Menschen mit angeborener Querschnittlähmung (Spina Bifida) haben keine eigenen sexuellen Erfahrungen und sind daher anders zu therapieren als ihre Leidensgenossen mit erworbener Paraplegie. Leider gebe es immer noch zu viele Psychologen, die Hilfsmittel oder andere Lösungsmöglichkeiten, z.B. bei Erektionsstörungen, ablehnen und den Behandelten eher voreilig als “Therapieversager” abstempeln.

Differenzierung der sexuellen Störungen

Die Zahl der jährlich neu auftretenden Lähmungsfälle bewegt sich bei ca. 1.800, wovon rund 70 Prozent unfallbedingt sind. Die häufigsten Probleme im Sexualleben von Paraplegikern/Tetraplegikern sind: Beeinträchtigung der Erektion und des Samenergusses, fehlende Sensibilität im Genitalbereich und damit der Verlust der genitalen Orgasmusfähigkeit, Verlust der Lubrikation der Scheide, ein zu kleiner Penis und als größte Barriere die Harn- und Stuhlinkontinenz. Im Gegensatz zu männlichen behalten weibliche Betroffene ihre volle Fortpflanzungsfähigkeit, d.h. sie können schwanger werden und Kinder zur Welt bringen. Der Grad der sexuellen Dysfunktion ist abhängig von der Läsionshöhe im Rückenmark. Bei Verletzungen in den Segmenten TH11 bis L3 – steuern den Samentransport und die Erektion – und S2 bis S4 – koordinieren Beckenboden, Genitalien, Blasen- und Anusmuskulatur – sind Störungen der Sexualfunktion unausweichlich. Bei inkompletten Lähmungen, d.h. unterhalb des neurologischen Niveaus, bleiben sensible und motorische Funktionen teilweise erhalten. Am gravierendsten wirkt sich die Halsmarkschädigung, die Tetraplegie, aus. Die sexuelle Dysfunktion wird heute psychotherapeutisch, mit technischen Hilfsmitteln, medikamentös und in schwierigen Fällen auch operativ behandelt. In allen Fällen erfordert es vom Therapeuten ein Höchstmaß an Intuition und umfassende Kenntnis neurologisch aktueller Therapieoptionen, so Löchner-Ernst.

Eingeschränkte Erektionsdauer
Rund 80 Prozent der Querschnittgelähmten sind Männer. Die meisten bekommen eine natürliche Erektion. Das Problem ist, dass sie zu früh abklingt. Die Therapieoptionen, so Löchner-Ernst, unterscheiden sich nicht von denen, die bei Nichtbehinderten zur Anwendung kommen. Mit Hilfsmitteln, wie beispielsweise Penisring oder Vakuumpumpe, kann die Dauer und Qualität der Erektion verbessert werden. Von Nachteil ist die vorbereitende Prozedur, die der Erotik eher schadet. Besser aber auch teurer ist die Einnahme von Viagra-Präparaten, soweit sich die Nebenwirkungen im akzeptablen Rahmen halten. Für eine schnelle Erektion kann zur Schwellkörper-auto-Injektion (SKAT) gegriffen werden. Dabei wird eine gefäßaktive Substanz direkt in den Schwellkörper eingespritzt oder in die Harnröhre eingeführt (MUSE). Die Methode hat sich bewährt. Wichtig ist, dass in der Testphase der Urologe die richtige Dosierung ermittelt, um eine prolongierte Erektion zu vermeiden.

Samenerguss und Fortpflanzung
Alle Maßnahmen, die die Erektion und ihre Dauer positiv beeinflussen, tragen nicht dazu bei, dass die Ejakulation verbessert wird. Der Samenerguss ist weitaus häufiger gestört als die Erektion, insbesondere wenn die Schädigung des Knochenmarks über TH10 liegt. Löchner-Ernst, der sich auf dem Gebiet der Fortpflanzung spezialisiert hat, nennt als technische Möglichkeiten die Rektale Elektrostimulation, die Penile Vibrostimulation, die Kombination mit medikamentösen Stimulanzien bzw. die Mikroinsemination oder die operative Samengewinnung. Die Auswahl des Verfahrens ist abhängig von der Art der Querschnittlähmung.

Die Einschränkung der Ejakulation bestimmt auch die Orgasmusfähigkeit bzw. das Empfinden eines Orgasmus beim Mann. Häufig überwiegt bei “Ungeübten” zunächst der Schmerz in den unteren Gliedmaßen. Erst im Laufe der Zeit stellt sich ein Wohlgefühl ein. Das lässt sich offenbar “trainieren”, da erotische Empfindungen vom Gehirn ausgehen. In fast allen Publikationen zur Sexualität von männlichen und weiblichen Querschnittgelähmten wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass der Körper viele erogene Zonen aufweist, die, wenn einmal erforscht, ebenfalls ein lustvolles Miteinander mit Höhepunkten ermöglichen. Im Prinzip sind das wohlgemeinte Ratschläge, die für Gesunde und Behinderte gleichermaßen gelten. Aber in diesem Kontext sind sie wohl eher als Aufmunterung gedacht, Schamgefühle, die häufig von außen heran getragen werden, abzulegen und Sexualität als normales Bedürfnis zu verstehen.

Frauen mit Querschnittlähmung unterinformiert
Was den genitalen Orgasmus von querschnittgelähmten Frauen mit fehlender Sensibilität im Genitalbereich betrifft, gehen die Meinungen auseinander. In einer Selbsthilfegruppe im Internet heißt es: “Viele querschnittgelähmte Frauen erleben einen Orgasmus! Aber auch ohne “Höhepunkt” kann Frau Lust am Sex empfinden.” Mehr ist nicht zu erfahren. Speziell für betroffene Frauen gibt es nur wenige Fachpublikationen bzw. Informationsangebote, die Rat und Hilfe bei sexuellen Störungen anbieten. Und wenn doch, reduziert sich das in den meisten Fällen auf Verhütungsmittel und wasserlösliche Gleitmittel bei fehlender Lubrikation. Für Schwangere gibt es allerdings inzwischen ein zunehmendes Sprechstundenangebot in Kliniken.

Eine der schlimmsten Barrieren beim Geschlechtsverkehr stellt die Blasen- und Darminkontinenz dar, weil sie sowohl bei betroffenem Mann als auch bei Frau zu ungewollten Entleerungen führen kann. Anleitungen, wie man dieses Problem in den Griff bekommt, findet man ausschließlich in Beiträgen zur querschnittgelähmten Frau. So wird empfohlen, die Blase gründlich vor dem Intimverkehr zu entleeren, notfalls auch mit einem Katheter. Weiterhin wird geraten, dass die übliche Abführzeit möglichst 12 Stunden vor oder nach dem Sexualakt liegen sollte. Und die Kuschelecke sollte mit saugfähigen Unterlagen und Handtüchern präpariert werden. Von Erotik keine Spur. Dabei gibt es unter dem Sammelbegriff der “sozialen Kontinenz” heute diverse Methoden, mit denen das Problem beherrschbar ist, so Peter Mand.

Quelle: DocCheck

Belsky Asked question 27. Oktober 2007