[B]Es gibt Menschen, die wünschen sich nichts sehnlicher als sich eine Gliedmaße amputieren zu lassen. Die Gliedmaße ist allerdings gesund, der Betroffene offenbar nicht. Er leidet an einer Krankheit, die gar keine ist: Die Body Integrity Identity Disorder.[/B]

Häufig hat es bereits in der Kindheit begonnen. Der Vater hatte sich das Bein gebrochen und musste wochenlang mit Krücken gehen. Diese Krücken! Von ihnen ging eine eigenartige Faszination aus, die den Blick fesselte und den Geist nicht mehr losließ. Das Ausleihen der Krücken – mehr als ein Kinderspaß, nämlich ein unsagbares Gefühl der Vollständigkeit, auch wenn die Gehhilfen zu groß waren und die Griffe für die Hände aufgrund der Kindergröße gerade unter die Schultern reichten. So will ich sein – so will ich werden.

Ähnliche Erinnerungen haben Patienten, die sich Jahrzehnte später nur noch eines wünschen: Das Bein muss ab. Wer führt bei mir eine Querschnittlähmung herbei, damit der Gebrauch des bereits beschafften und benutzten Rollstuhls endlich gerechtfertigt ist? Neben dem wachsenden Wunsch wird allerdings auch das schlechte Gewissen immer größer.

Body Integrity Identity Disorder (BIID) ist der medizinische Name einer Erkrankung ohne ICD-Nummer oder Eintrag im DSM-Verzeichnis. Sich des eigenen bizarren Wunsches vollständig bewusst stoßen Patienten bei Ersuchen um Hilfe fast bei jedem Gesunden und auch vielen Ärzten auf eine breite Palette von Gefühlen und Reaktionen. Unverständnis, Verurteilung und Nichternstnehmen können allerdings dramatische Folgen haben. Der Patient legt sich auf die Gleise, springt aus dem Fenster oder erreicht mit Werkzeugen das, was ihm von offizieller Seite her versagt bleibt: Das Gefühl der Ganzheit.

Das intensive Gefühl, der Körper wäre nach der Amputation eines Gliedes oder Herbeiführen einer Tetraplegie „kompletter“ sollte nicht als Wahn, Schizophrenie oder neurologische Erkrankung fehlgedeutet werden, weiß Neuropsychologe Erich Kasten der Universität Lübeck. Er ist einer der wenigen Forscher, die sich intensiv mit dem Krankheitsbild auseinandersetzten, bei dem bislang jede denkbare Therapie versagte. In neun Fallbeispielen untersuchte er übereinstimmende Persönlichkeitsmerkmale und Motive von Betroffenen (Fortschr Neurol Psychiatr 2009; 77: 16-24).
Parallelen zu körperdysmorphen Erkrankungen (BDD), Fetischismus oder Wahn fanden sich wenige. Sexuelle Motive spielten bei einem Drittel der Untersuchten eine Rolle. Amputationswünsche konnten von einer Körperseite auf die andere wechseln, blieben aber trotz aller medizinischen und psychotherapeutischen Interventionen erhalten. Damit lässt sich die Krankheit auch nicht mit einer ZNS-Läsion erklären.

Nicht nur, dass eine rechtliche Seite allen Beteiligten zu schaffen macht, auch ethische Bedenken kommen in wohl jedem Menschen hoch, dessen Ziel der Erhalt der Gesundheit und körperlichen Integrität ist. Da die Erkrankung offiziell nicht als Krankheit gilt, gibt es auch keine anerkannte Therapie. Eine gezielt herbeigeführte Amputation oder Querschnittlähmung hat einen therapeutischen Zweck zu erfüllen und ist nur dann zulässig.

Hilfe für Patienten fordert Michael First, Professor der Psychiatrie an der Columbia University in New York. Er hatte 52 Personen mit Amputationswunsch untersucht. Die Amputationswünsche hatten ihren Ursprung bereits in der Kindheit oder Jugend. Keiner der Patienten war psychotisch. Helfe man den Patienten nicht, würden diese in ihrer Verzweiflung selbst Hand anlegen, so der Forscher. Vorurteile und Sperren gegen eine Behandlung wären keine Lösung. Das Wissen und die Beschäftigung mit dem Krankheitsbild ist die Voraussetzung einer möglichen Therapie. Parallelen zieht er zu Transsexuellen, bei denen geschlechtsangleichende Operationen auch lange Zeit als ethisch verwerflich galten.

Argumentationen für eine Operation findet auch der Australier Christopher James Ryan (Neuroethics 2009; 2:21-33). Er untersuchte die medizinische und philosophische Literatur zum Thema. Sein Fazit: Nach eingehender Diagnostik und Bestätigung der Erkrankung und einem Therapieversuch mit Antidepressiva hält er eine Entfernung der betreffenden Extremität für eine ethisch vertretbare Behandlungsoption.

Sechs Patienten der Studie von First wurde ihr Wunsch jedenfalls erfüllt. Alle Patienten fühlten sich nach der Amputation besser denn je. Wünsche nach weiteren Amputationen bestanden nicht.

Quelle: doccheck.com

Belsky Asked question 13. März 2009